Der grosse Faktencheck zur Anti-Europa-Initiative
Vor einer Woche lancierten die milliardenschweren Inhaber von Partners Group die Anti-Europa-Initiative, die sie selber “Kompass-Initiative” nennen. Die Milliardäre nutzen die Initiative, um populistische und faktenwidrige Behauptungen über die EU und die Schweiz zu verbreiten. Sie wollen die Bilateralen III – die Weiterführung des bilateralen Schweizer Erfolgsmodells seit 1999 – verhindern. Wir haben die Aussagen der Initianten und ihre 9 Argumente von der Website einem Faktencheck unterzogen.
Die Anti-Europa-Initiative verhindert die Weiterführung des bilateralen Weges. Der Applaus kommt entsprechend von der SVP.
Falsch. Die Initianten der Anti-Europa-Initiative verwechseln absichtlich «automatisch» und «dynamisch». Die Bilateralen III sehen explizit einen «Opt out»-Mechanismus vor, bei dem Schweizer Institutionen immer das letzte Wort haben. Die Schweiz kann auch künftig über jede einzelne Rechtsübernahme mit der EU entscheiden, automatisch passiert hier gar nichts.
Falsch. Die Schweiz kann auch künftig über jede einzelne Rechtsübernahme mit der EU entscheiden. Tatsache ist aber: Wir übernehmen schon heute sehr vieles, nicht weil wir rechtlich dazu verpflichtet sind, sondern weil es teuer und dumm wäre, es nicht zu tun. Die Schweiz ist mitten in Europa und wir können uns dem europäischen Projekt nicht einfach entziehen. Die Anti-Europa-Initiative propagiert eine Souveränität auf dem Papier, die in der Praxis gar nicht existiert. Mit ihrem isolationistischen Kurs verlieren wir Mitbestimmung und Selbstbestimmung.
Das fakultative Referendum gegen Verträge und Gesetze genügt. Dieses wird nicht ausgehöhlt. Die Einführung des obligatorischen Referendums schwächt das Parlament und die Regierung erheblich, bis hin zur Handlungsunfähigkeit. Die direkte Demokratie setzt voraus, dass man zum besten Zeitpunkt über wichtige Geschäfte abstimmen kann. Diese Initiative könnte zu einer unerwünschten Abstimmungsflut über zum Teil äusserst technische Vorlagen führen.
Falsch. Es bringt keine Rechtssicherheit, wenn die Stimmbevölkerung mit weitgehend unumstrittenen Vorlagen überflutet wird. Es bringt keine Rechtssicherheit, wenn Vorlagen am Ständemehr scheitern, obwohl die Hoheitsrechte der Kantone dabei nicht tangiert werden. Es bringt vor allem keine Rechtssicherheit, wenn geordnete institutionelle Beziehungen von Realpolitik und Handelskriegen ersetzt werden.
Kommt drauf an, was das heisst: Ja und Nein. Zwei Blickwinkel.
1. Wenn die neuen Bilateralen III einer EU-Passivmitgliedschaft (whatever that means) gleich kämen, dann wären wir schon seit 1999 und dem Abschluss der Bilateralen I EU-Passivmitglied. Die Verträge haben einen unglaublichen Wachstum in der Schweiz angestossen und uns zentrale Freiheiten wie die Personenfreizügigkeit gebracht. Wir übernehmen übrigens schon jetzt viele EU-Gesetze, damit unsere Unternehmen im EU-Binnenmarkt erfolgreich sein können. Es ist die grösste Selbstlüge der Schweiz, dass wir heute “souverän” sind und es morgen plötzlich nicht mehr wären.
2. Nein, denn die EU ist viel mehr. Die Breite der EU geht weit über die paar Abkommen mit der Schweiz hinaus. Nach wie vor sind wir kein Mitglied im freien Warenverkehr, der Landwirtschaft, den Dienstleistungen (ausser dem Flugverkehr), der Währung, der Aussenpolitik, der Aussenwirtschaftspolitik, der Sicherheit und militärischen Zusammenarbeit. Eine passive Mitgliedschaft würde wohl all dies erfassen, wenn sie denn real existieren würde. Die Bilateralen III verbessern die Einbringung der schweizerischen Interessen in den Verhandlungen und der Rechtssetzung erheblich und verbessern die Mitsprache.
Diese Aussage verkennt die Tatsache, dass sich ALLE wirtschaftlich entwickelten Länder auf dem europäischen Kontinent darauf geeinigt haben, ihre Wirtschaftsbeziehungen auf Augenhöhe in einem multilateralen Rahmen zu pflegen (WTO und EU). Der einzige Weg, um mit europäischen Ländern auf Augenhöhe zu verhandeln, ist möglichst regelmässig an einem multilateralen Verhandlungstisch zu sitzen.
Wenn wir keine geordneten Beziehungen mit der EU pflegen, können wir alles, was hinter der EU liegt, ganz vergessen. Für den Zugang zu den Weltmärkten ist die Schweiz als europäischer Binnenstaat zu 100% auf gute und geordnete Beziehungen mit der EU angewiesen. Ohne Zugang zu den europäischen Verkehrswegen (Häfen, Luftraum, Schienen, Strassen, Pipelines, Gas- und Stromleitungen, Glasfaserkabel, etc.) gibt es keine Beziehungen zum Rest der Welt.
Falsch. Die Schweiz hängt viel stärker vom Handel mit der EU ab (über 50%) als die EU von der Schweiz (ca. 6%, Schweiz ist viertgrösster Partner). Die EU braucht die Schweiz nicht, umgekehrt aber schon. Das Wachstum des Aussenhandels der EU ist vor allem im Handel mit China und USA. Die Schweiz ist in Europa eine mittelgrosse Volkswirtschaft, sie darf sich nicht unterschätzen, aber auch nicht überschätzen.
Falsch. So titelte die NZZ am Tag der Lancierung der Anti-Europa-Initiative ein Interview mit den Initianten Urs Wietlisbach und Heinrich Fischer. Viele durften sich angesichts der Unterstützung der Bilateralen III durch Economiesuisse oder SwissMem und viele weitere Unternehmer*innen auf den Quellenhinweis zur besagten Studie gefreut haben. Aber im Text erfuhr man dann, dass acht von zehn Unternehmer, die Wietlisbach persönlich kenne, den neuen Verträgen mit der EU gegenüber skeptisch seien. Wow, keine Studie also, sondern das persönliche Umfeld als Gradmesser. Der EU-kritische Wietlisbach gibt sich mit EU-kritischen Freunden ab, surprise surprise. Auch in vielen anderen Medien erhielten die populistischen Anti-EU-Milliardäre eine grosse Plattform für ihre Falschaussagen und ihr Anti-Europa-Gehabe.
Falsch. Die Initianten wollen den Bundesrat praktisch erpressen, obwohl faktisch keine Notwendigkeit besteht und es sachlich nicht angezeigt ist, die Bilateralen III dem obligatorischen Referendum zu unterstellen. Ist das noch direkt-demokratisch?
Klar ist: Die Initiative gilt erst, wenn sie angenommen wird, was frühestens 2028 passieren könnte. Die Abstimmung über die Bilateralen III ist vorher und kann nicht so lange herausgezögert werden. Bundesrat und Parlament sind nicht an nicht angenommene Volksinitiativen gebunden. Der Bundesrat und das Parlament haben beispielsweise den Kauf des F-35 beschlossen, obgleich eine eingereichte Volksinitiative vorlag.
Den Initianten der Anti-Europa-Initiative geht's nicht primär ums letzte Wort des Volkes. Es geht vor allem darum, gegen die Bilateralen III zu wettern, um sie letztendlich zu verhindern. Die Medienkonferenz und die Webseite lassen daran keine Zweifel aufkommen. Das sollte auch für Sie, Herr FDP-Ständerat Wicki, offensichtlich sein, oder?
Wir freuen uns, diese Herrschaften ein Jahr lang auf der Strasse zu sehen. Wart mal: Sagte Urs Wietlisbach, Mitgründer der Partners Group, an der Medienkonferenz nicht doch eher, dass genügend Spenden da seien (wen wundert’s bei den drei Milliardären im Komitee), um die notwendigen Unterschriften aufzutreiben? Sprich: einzukaufen?
Das ist für einmal wohl alles korrekt. Aber auch beängstigend. 2021 gab Kompass Europa laut eigenen Angaben an der Medienkonferenz über 1,5 Millionen Franken aus, um das Rahmenabkommen zu verhindern. Mit Erfolg: Der Bundesrat beerdigte das ausgehandelte Abkommen ohne Plan B und ohne es dem Stimmvolk vorzulegen. Drei Jahre später sollen die Bilateralen III nun das gleiche Schicksal erleiden.
Die 9 Argumente der Kompass-Website im Faktencheck
Genau diese Forderung stellte die AUNS-Initiative “Staatsverträge vors Volk”, die 2012 von über 75 % der Stimmbevölkerung und allen Ständen haushoch abgelehnt wurde. So viel zu (Angst vor) Volksentscheiden. Verträge wie die Bilateralen III unterstehen heute dem fakultativen Gesetzesreferendums, das Volk kann also sehr wohl mitentscheiden. Die Anti-Europa-Initiative will die Gesetzgebung aber massiv zugunsten kleinerer Kantone (wegen Einführung des Ständemehrs) verzerren. Es geht nicht an, dass in aussenpolitischen Fragen, die die kantonale Souveränität nicht beschneiden, die Stimme eines Stimmbürgers aus Glarus 100x mehr zählt als die einer Zürcherin.
Im Gegenteil! Ein freier Entscheid ist einer, der sich allen möglichen Konsequenzen bewusst ist. Dazu gehören Ausgleichsmassnahmen, wenn die Schweiz bestimmte Gesetze nicht übernehmen will. Freiheit heisst Verantwortung. Das ist die höchste Form der Souveränität, im Gegensatz zu jener auf dem Papier, wo wir weder mitbestimmen noch selbstbestimmen können, und mit sachfremden und unverhältnismässigen Ausgleichsmassnahmen (da nicht geregelt) rechnen müssen, wie zum Beispiel mit dem Ausschluss aus Horizon, Erasmus und Creative Europe oder Nadelstichen bei der Börsenäquivalenz oder bei den Medtech-Handelshemmnissen.
Falsch. Abgesehen von Massnahmen von übergeordneter geopolitischer Bedeutung (z.B. Sanktionen gegen Russland) fordert die EU nie von der Schweiz, EU-Recht zu übernehmen. Die Schweiz entscheidet autonom, ob sie einen Vertragsteil des EU-Rechts übernehmen will oder nicht. Die dynamische Rechtsübernahme betrifft eh nur die Regulierung des Binnenmarktes, an dem die Schweiz gleichwertig teilnehmen will. Die Aussage, dass die EU unsere Gesetze macht, ist absurd.
Falsch. Wenn man Mythen ständig wiederholt, kann man sich vielleicht selbst täuschen, aber sie werden nicht zur Wahrheit. Die Struktur der EU ist mit derjenigen der Schweiz in Bezug auf Föderalismus und dem Zweikammer-System durchaus vergleichbar. Beide sind von unten nach oben aufgebaut. Der Unterschied liegt allein in der direkten Demokratie, die mit der Anti-Europa-Initiative in der Aussenpolitik erneut massiv ausgebaut werden soll, trotz klarer Ablehnung der AUNS-Initiative “Staatsverträge vors Volk” im Jahre 2012.
Die EU ist für die Schweiz eine schwierige Verhandlungspartnerin, weil die interne Entscheidungsfindung langwierig und kompromiss-orientiert ist. Wenn aber ein Kompromiss zwischen 27+3 Staaten und 705 Parlamentarier*innen abschliessend in Stein gemeisselt wird, kann niemand aus Liebe zur Schweiz irgendwelche Zugeständnisse mehr machen.
Klar. Aber: Der Schweizer Wirtschaftsstandort würde ganz krass geschwächt, wenn die Bilateralen und insbesondere die Personenfreizgigkeit wegfallen würden. Weiter unten beim Argument “Wir wollen uns nicht dem langsameren Wachstum Europas anpassen.” liefern wir dazu auch Zahlen.
Die Anti-Europa-Initiative will zurück zum Freihandel. Für viele Unternehmen würde dies mehr Aufwand, Kontrolle und Kosten bedeuten. Wenn der wichtigste Markt wegbricht, weil die Schweizer Unternehmen nicht nach den EU-Spielregeln spielen wollen, um am Binnenmarkt teilzunehmen, dann wird das negative Konsequenzen haben: Viele Firmen würden ihren Sitz in die EU oder die USA verlegen. Der Wirtschaftsstandort verliert an Attraktivität. Ein Ersatz durch z.B. die USA (die mit hohen Importzöllen Protektionismus betreiben) ist kaum denkbar.
Übrigens: Urs Wietlisbach, einer der Milliardäre der Partners Group und Köpfe hinter der Anti-Europa-Initiative, beklagt sich gleichzeitig über die Regulierung in der EU, aber investiert mit Partners Group wie wild in Europa.
Assets under Management der Partners Group:
Falsch. Die Bilateralen I können ohne neue Verträge in dieser Form mittelfristig nicht weitergeführt werden.
Einzig das Luftvehrkehrsabkommen wird ständig auf den neuesten Stand der Rechtslage aufdatiert. Wichtige Marktzugangsabkommen müssen regelmässig auf die aktuellsten Industrienormen aufdatiert werden, sonst ist es mittelfristig nichts mehr wert. Kooperationsabkommen wie diejenigen im Bereich der Forschung und Bildung laufen alle sieben Jahren ersatzlos ab. Für das Innovationsland Schweiz ist es wichtig, einen rechtlichen Anspruch auf die Aufdatierung respektive auf die Assoziierung zu Nachfolgeprogrammen zu haben. Sonst befindet man sich ständig in einer Bittstellerposition.
Falsch. Die Bilateralen III sind eine Voraussetzung für eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit zu Asien und den USA. Denn wenn die Liefer- und Wertschöpfungsketten und die Versorgungssicherheit aufgrund der Rechtsunsicherheit mit der EU nicht mehr gewährleistet werden können, würden es sich aussereuropäische Handelspartner*innen mehrmals überlegen, mit Schweizer Geschäftspartner*innen Verträge abzuschliessen.
Zudem werden gerade die USA und China zunehmend zu problematischen Märkten für die Schweizer Exportindustrie. USA und China haben einen aktiven Handelskrieg, die USA sind zunehmend protektionistisch unterwegs. Mit den USA gibt es kein Freihandelsabkommen. Daher ist die Rechtsunsicherheit bei Geschäften mit den USA sehr hoch.
Das Wirtschaftswachstum der Schweiz in den letzten Jahren lässt sich zum grossen Teil auf die Personenfreizügigkeit und die Wertschöpfungsketten mit der EU zurückführen.
Die Konjunkturforschungsinstitute BAK und Ecoplan weisen darauf hin, dass das Schweizer BIP 2035 7,1% resp. 4,9% tiefer liegen würde, wenn es die Bilateralen nicht gäbe. Die Personenfreizügigkeit leistet dabei den wichtigsten Beitrag. Diese Szenarien sind ziemlich konservativ, weil Nebenwirkungen wie Versorgungsengpässe oder Investitionsausfälle – wie sie beim Brexit festgestellt werden konnten – gar nicht berücksichtigt werden können. Auch nicht eingerechnet sind die Auswirkungen der allfälligen Kündigung von eng verbundenen Abkommen, wie das Freihandelsabkommen von 1972 (das von der EU als veraltet bezeichnet wird), das Zollerleichterungs- und Zollsicherheitsabkommen von 2011 oder das Assoziierungsabkommen an Schengen/Dublin von 2004. Die Abschottung der Schweiz von der EU könnte auch die Weiterführung von Abkommen mit Mitgliedsstaaten wie Deutschland oder Frankreich gefährden. Aufgrund von bilateralen Erfahrungen mit der Schweiz (Erbschaftsabkommmen) und ihrer harten Haltung in den Brexit-Verhandlungen zeigt sich insbesondere Frankreich bereit zu sein, Abkommen ersatzlos zu kündigen, was die Rheinschifffahrt und zwei der drei internationalen Flughäfen (Basel/Mulhouse und Genf) lahmlegen könnte. Das hätte riesige negative Konsequenzen für die Schweiz.
Schon wieder ein Mythos aus der Mottenkiste. Die EU-Kommission (vertritt ca. 450 Millionen Menschen) hat etwa gleich viele Beamt*innen wie die Stadt Zürich (vertritt ca. 450’000 Menschen). So viel zum Monster.
Die EU ist kein Staat und hat auch keine Gesetze. Sie erlässt Richtlinien und Verordnungen, die grossmehrheitlich direkt oder indirekt auch in unserem Alltag Anwendung finden. Es gibt tatsächlich wenige Lebensmomente, die nicht von EU-Recht beeinflusst werden. Es wäre aber eine grosse Selbsttäuschung, wenn wir uns über eine Volksinitiative in eine andere Zeit und auf einen anderen Kontinent versetzen würden. Viel wichtiger ist es, uns zu überlegen, wie wir diese Vorschriften beeinflussen können.